Mein Leben begann wie ein Alptraum.


Ich könnte damit ein ganzes Buch füllen – aber Nein, es gibt kein Buch. Umso wichtiger ist es mir, dass ich hier ein bisschen ausführlicher über mich berichte.

Mein Name ist Katrin Clement. Ich bin 42 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Leipzig.
Meine Schwester und ich kamen aus einem Elternhaus, in dem Alkohol, Gewalt und sexueller Missbrauch zum Alltag gehörten. Unsere Eltern waren Alkoholiker, und wir kannten nichts anderes als betrunkene Eltern.

Ich erinnere mich an viele Situationen, in denen mein Vater von der Arbeit nach Hause kam. Wenn das Essen nicht auf dem Tisch stand, gab es Schläge – begleitet von immer denselben verletzenden Worten:

„Du bist zu nichts zu gebrauchen. Hätten wir dich abgetrieben, wäre unser Leben einfacher.“

Ein Tag hat sich besonders tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Meine Eltern stritten wieder einmal heftig. Aus Angst versteckte ich mich im Schrank. Ich hörte, wie mein Vater tobte und auf meine Mutter einschlug. Es fühlte sich an, als würde dieser Albtraum nie enden. Dann plötzlich – Stille.
Als ich mich endlich aus dem Schrank traute, lag meine Schwester bewusstlos in unserem Zimmer. Meine Mutter lag im Wohnzimmer – blutüberströmt und reglos. Ich dachte, sie wäre tot. Mein Vater hatte eine Verletzung an der Hand – sie hatte sich gewehrt, ihm mit einer Schere in die Hand gestochen.
Er sah mich an und sagte nur:

„Das ist alles deine Schuld.“

Und dann missbrauchte er mich.

Ich dachte, danach würde meine Mutter sich endlich trennen. Aber das tat sie nicht. Einige Zeit später holte mich meine Schwester aus der Kita ab. Auf dem Heimweg fanden wir unseren Vater – erhängt im Türrahmen. Ich spürte Erleichterung. Endlich war dieses unberechenbare Monster tot. Doch vorbei war es nicht. Mit seinem Tod begann ein neues Kapitel des Schreckens.

Meine Schwester zog aus, ich blieb allein bei unserer Mutter. Wir zogen in eine eigene Wohnung, und ich hoffte, sie würde nun aufhören zu trinken – dass sie endlich für mich da wäre, mich einmal in den Arm nehmen und sagen würde:

„Ich hab dich lieb.“

Aber das geschah nie. Im Gegenteil.
Mit acht Jahren musste ich den gesamten Haushalt führen, Wäsche waschen, kochen – Verantwortung übernehmen, die kein Kind tragen sollte.

Die größte Herausforderung war jedoch nicht der Haushalt.
Die größte Herausforderung war, meine Mutter zu ertragen – oder besser gesagt, für sie zu sorgen.

Oft schickte sie mich los, um Alkohol zu besorgen. Wenn ich keinen bekam, schrie sie mich an:

„Du Schlampe. Du bist zu nichts zu gebrauchen. Du bist nichts. Du kannst nichts.“

Immer wieder flehte ich sie an:

„Mama, hör doch auf zu trinken. Ich brauche dich doch.“

Ihre Antwort war eiskalt:

„Ich brauche euch nicht. Du bist es nicht wert.“

Und doch gab es diese seltenen Momente, in denen sie betrunken in mein Bett kam, mich umarmte und weinte:

„Morgen hör ich auf. Es tut mir leid.“

Aber ich glaubte ihr irgendwann nicht mehr. Sie war so betrunken, dass sie bei mir ins Bett pinkelte – und am nächsten Tag nichts davon wusste.
So ging es Tag für Tag.

Nach der Schule fand ich oft fremde Männer in unserer Wohnung. Alkohol floss, Musik dröhnte. Wir hatten nur zwei Zimmer – es gab keinen Rückzugsort für mich. Also schloss ich mich im Bad ein. Irgendwann hämmerte es an die Tür: „Komm, du Schlampe. Mach die Tür auf und geh Schnaps holen.“ Um meine Ruhe zu haben, tat ich es. Ohne zu wissen, was mich an diesem Tag erwartete.

Als ich zurückkam, war die Stimmung aggressiv. Aus dem Wohnzimmer hörte ich die Stimme meiner Mutter: „Nimm dir, was du brauchst. Ich kann nicht mehr. Dann nimm dir meine Tochter.“ Und dann zu mir: „Stell dich richtig an, wenigstens einmal.“ Ich realisierte nicht sofort, was sie meinte. Dann passierte es.
Ich weiß nicht mehr, wie viele Männer es waren – zwei, drei? Ich wehrte mich nicht. Ich hoffte nur, dass es bald vorbei wäre. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein.

Als ich wieder aufwachte, war es still. Niemand war mehr da. Auf dem Tisch stand noch eine Flasche Schnaps und eine Packung Faustan – ein Schlafmittel. Ohne groß nachzudenken, trank ich und nahm die Tabletten.


Mit acht Jahren betäubte ich mich zum ersten Mal. Es fühlte sich… gut an. Ich musste nichts mehr fühlen. Kein Schmerz, keine Angst, keine Scham.

Von da an betäubte ich mich, bevor die Männer kamen. Damit ich es nicht spüren musste. Eines Tages schrie ich meine Mutter an: „Warum tust du das? Ich bin doch deine Tochter!“

Ihre Antwort: „Du bist nicht meine Tochter. Du bist der letzte Dreck. Verschwinde aus meinem Leben.“

Ich konnte nicht glauben, dass sie das ernst meinte. Ich flehte sie an, bettelte, dass ich ihr Hilfe besorge.

„Mir muss keiner helfen. Du musst weg. Dann ist mein Leben wieder in Ordnung.“

Ihre Worte trafen mich wie ein Stich ins Herz. Wut stieg in mir auf. Und gleichzeitig – eine unendliche Leere.

„Wenn es das ist, was du willst, dann gehe ich.“ Ich packte meine Sachen – und irgendwo tief in mir hoffte ich, sie würde mich aufhalten. Aber sie tat es nicht.

Mit leerem Blick, gebrochenem Herzen und dem Gefühl, alles falsch gemacht zu haben, verließ ich die Wohnung. Kein Plan. Kein Ziel.

Nur das Wissen: Vier Jahre voller Missbrauch und Schläge lagen hinter mir – und ich war gerade zwölf.

Irgendwie landeten meine Schritte am Leipziger Hauptbahnhof. Vielleicht, weil dort immer Menschen waren.
Vor dem Eingang saßen viele, rauchten, redeten. Ich wollte nur nach einer Zigarette fragen.

Da war er – Olli.
16 Jahre alt.
„Hey, Kleine, komm, setz dich zu uns.“

Ich setzte mich. Tränen schossen hoch.
Er nahm mich in den Arm. „So schlimm?“
Ich nickte.

„Ich hab was, das dich vergessen lässt. Willst du’s probieren?“


Ohne zu wissen, was es war, nickte ich wieder.

„Mach mal den Arm frei.“
Ich fragte nicht warum.

„Guter Stoff – der lässt dich vergessen.“

Die Nadel stach. Heroin.
Es schoss durch meine Vene, breitete sich in meinem ganzen Körper aus.

Wärme. Ruhe. Schmerz weg. Gedanken aus.

Zum ersten Mal fühlte ich mich geliebt – bedingungslos. In diesem Moment wusste ich: Ich will das wieder.
Ich will nicht mehr fühlen. Nicht mehr denken.

Mit diesem Tag reichte ich dem Teufel die Hand.
Und rückblickend kann ich sagen: Ich war sofort abhängig.

Ohne Geld. Ohne Schlafplatz. Ohne Zukunft.
Ich blieb am Bahnhof.

Olli lebte auch dort – seit er zwölf war. Missbrauch, Schläge, das gleiche Elend wie bei mir.
Wir waren wie Seelenverwandte. Wir teilten den Stoff, bettelten um Geld, drehten krumme Dinger.
Er wusste nicht, was ich erlebt hatte – aber er verstand den Schmerz.

Ich sagte ihm nur: „Ich will meine Schule weitermachen.“
Aber ich war längst tief drin – süchtig, pleite, heimatlos.

Dann zeigte er mir einen Ort, an dem man schnell Geld machen konnte.
Den Babystrich in Leipzig.

Mein ganzer Körper schrie Nein.
Die Erinnerungen an meine Kindheit drückten wie ein Klotz auf die Brust.
Aber der Entzug schrie lauter.

Wir standen am Rand der Straße.
Olli deutete mit dem Kopf. „Da drüben. Babystrich.“

Ich starrte hin.
Mädchen. Frauen. Manche kaum älter als ich. Schminke verschmiert, Augen leer.
Ich wollte wegsehen – aber konnte nicht.

In meinem Kopf ratterte es.
Die Nächte mit meinem Vater. Die fremden Männer in der Wohnung. Das Weinen. Das Betteln bei meiner Mutter.
Ich hatte geschworen: Nie wieder. Doch mein Körper zitterte. – Nicht vor Angst. – Vor Entzug.

Olli sah mich an.

„Nur kurz. Einmal. Dann hast du Geld.“


Ich spürte den Schweiß auf meiner Stirn, mein Herz raste. Die Nadel in meinem Arm von gestern – die Wärme – das Vergessen. Es zog mich wie ein Magnet.

„Nur, wenn ich vorher noch einen Schuss kriege.“
„Klar“, sagte er.

Das Brennen in der Vene kam wie eine Welle. Der Druck im Kopf ließ nach, die Leere breitete sich aus.
Und mit der Leere kam die Bereitschaft. Ich ging los. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde ich gegen mein eigenes Versprechen treten. Aber der Teufel in meinem Blut flüsterte: „Nur heute. Nur einmal.“

Ich glaubte ihm. Ich wollte es nicht wieder erleben. Aber der Entzug schrie lauter als meine Angst.
Ich brauchte Geld für den nächsten Schuss. Und ich wollte doch nur meine Schule fertig machen. In meinem Kopf lief der Film vom ersten Schuss ab – Wärme, Leere, Vergessen. Zugedröhnt lief ich los.
Der Babystrich.
Es dauerte nicht lange, bis ein Freier kam. Mit Heroin im Körper war alles leicht. Keine Gefühle. Leere im Kopf. Schnell verdientes Geld – das war der Plan. Aber es kam anders. Damals gab es das Blaue Café, betrieben vom Blauen Kreuz. Ein Schutzraum für Frauen wie mich. Essen, Trinken, Gespräche – bis 23 Uhr.
Dort traf ich zum ersten Mal Dieter Kappler.

Ein Mensch ohne Vorurteile. Mit einer Ruhe, die ich noch nie erlebt hatte.
Er lächelte immer. Wir kamen ins Gespräch.Ich erzählte ihm von meiner Mutter und fragte:

„Kannst du mir helfen, dass sie aufhört zu trinken?“

Ein paar Tage später gingen wir zu ihr. Es waren Monate vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
Wie erwartet: Männer, Alkohol, Lärm. Dieter blieb ruhig, gelassen. In mir kochte es. Wut. Hass. Alles kam hoch.

„Ich brauch keine Hilfe von dir, Schlampe. Schon gar nicht“, spie sie mir ins Gesicht.

Da brach etwas in mir.

„Ich hasse dich. Dann verrecke doch.“

Das waren meine letzten Worte an sie. Und das letzte Mal, dass ich sie sah – vorerst.

Getrieben von Sucht und der Enttäuschung über meine Mutter ging ich zurück zum Bahnhof. Zu Olli.
An diesem Tag fasste ich einen Entschluss: Ich gehe wieder in die Schule. Ich wollte es meiner Mutter beweisen – dass ich etwas kann.- Dass ich es wert bin.

Olli hatte uns einen Schlafplatz besorgt – alte Lagerhallen am Bahnhof. – Morgen würde ich gehen.
Doch es gab ein Problem: kein Geld.

Also wieder zum Babystrich.
Mit Geld in der Tasche zurück zum Schlafplatz, wo Olli schon wartete.

„Hey, Kleine, heute kein Heroin. Dafür Crystal.“


Wieder fragte ich nicht, was es war oder was es mit mir machen würde.
Ich ließ es mir in die Vene jagen.

Das Gefühl war anders.
Nicht warm und ruhig – sondern scharf, hell, alles vibrierte.
Plötzlich war ich selbstbewusst. Glücklich. Energie durchflutete mich.
Kein Schmerz. Kein Leid.

Ich schlief nicht. Tagelang.
Mit Crystal im Blut ging ich zur Schule.
Der Unterricht flog an mir vorbei, als hätte ich einen Motor im Kopf.

Mittlerweile waren Olli und ich zusammen. Meine erste große Liebe.
Trotz allem – Straße, Sucht, Anschaffen – unterstützte er mich in der Schule.
Irgendwie schaffte ich es.

Für mich war klar: Ich mache meinen Abschluss.
Ich finde eine Ausbildung.
Ich suche mit Olli eine Wohnung.

Wir wollten raus.

Getrieben von der Sucht und dem Traum, eine Wohnung zu bekommen, tat ich Dinge, die Olli nicht verstand. Unter Crystal Meth ließ ich mich immer wieder Männern für Geld hingeben. Getrieben von einem unersättlichen Verlangen, von der Macht, zu entscheiden, was passiert – beim Sex fühlte ich mich unbesiegbar. Das Selbstbewusstsein, die Kontrolle – alles war grenzenlos.

Doch ich bemerkte nicht, wie sehr Olli litt. Ich wusste, dass er Schläge und Missbrauch von seinem Vater erfahren hatte, aber nicht, dass sein kleiner Bruder dasselbe durchmachen musste. Den Tag werde ich nie vergessen.

Seine Mutter kam zum Bahnhof und sagte: „Olli, dein Bruder Julien hat sich das Leben genommen. Er war acht Jahre alt.“

Ich habe Olli noch nie so gesehen. Wir waren seit einem Jahr zusammen, und er schrie: „Du Dreckschwein! Ich bring dich um!“ Sein Hass, seine Wut, seine Verzweiflung – alles explodierte in einem Moment.

Getrieben von Schmerz gingen wir Stoff holen – wieder Heroin.
Bevor er sich den ersten Schuss setzte, drehte er sich zu mir:
„Hey Kleine, versprich mir, egal wann du mal ein Kind bekommst – nenne es Julien. Vergiss nicht, ich trag dich immer in meinem Herzen. Du bist großartig.“

Ich verstand nicht. Verwirrt nickte ich, und er setzte den Schuss. Kalt, verschwitzt, ängstlich – er weinte: „Gleich bin ich bei Julien. Versprich mir, pass auf dich auf, Kleine. Denk an dein erstes Kind.“

Ohne zu wissen, was geschehen würde, versprach ich es ihm. Unser erstes Kind würde Julien heißen.

Kurze Zeit später starb er in meinen Armen.
Ich schrie: „Olli, wach auf! Lass mich nicht alleine! Du bist doch alles, was ich habe!“
Keine Antwort.
Er war tot – Überdosis Heroin.

Alles in mir zerbrach.
Meine erste Liebe war tot.
Getrieben von Angst, Wut, Verzweiflung, von dem Gefühl, nichts wert zu sein, allein gelassen, verstoßen, zerbrach ich innerlich. Ich versuchte, mir das Leben zu nehmen. Landete in der Klinik.

Und dann die nächste Nachricht: Aus der Zeitung erfuhr ich, dass meine Mutter, 42 Jahre alt, ins Koma gefallen war.
Der Schmerz, das Leid – alles war wieder da. Ich wollte ihr den Tod wünschen. Ich fühlte mich schuldig. Ich war schuld. An Ollis Tod. An dem Zustand meiner Mutter. Alles war verloren.

Ich lag da, mit all diesen Gefühlen, mit all dem Schmerz. Ich begann mich zu ritzen. Der Druck verschwand, das Leid wurde kurz leiser.

Monate vergingen, Klinikaufenthalte, Orientierungslosigkeit.
Und dann, plötzlich, stand Dieter Kappler in der Tür.

Rückblickend würde ich sagen: Gott hat ihn geschickt.
Mit seinem Lächeln, seiner Ruhe und Gelassenheit sagte er:
„Ich habe einen Heimplatz für dich.“
Er betete für mich. Ich dachte, er hat den Verstand verloren.

Aber irgendetwas in mir sagte: Lebe. Mach es.

So entschied ich mich – für den Heimplatz, wo ich mit 15 Jahren ankam.
Ein Ort, der der Anfang eines neuen Kapitels war.

Angekommen im Heim war ich wieder meinen Gefühlen ausgeliefert: Leere, Wut, Hass, Enttäuschung, Schuld. Mein Weg führte erneut in Sucht und Abhängigkeit zurück.

Trotz allem schaffte ich meinen Realschulabschluss. Ich hatte etwas erreicht – ich hatte es geschafft! Das eröffnete mir ein Jahr Praktikum beim Blauen Kreuz. Dieter Kappler nahm mich überall mit hin – Gemeinden, Gefängnisarbeit, Hausbesuche. Ich war fasziniert von seiner Arbeit, davon, wie er mit Menschen umging, egal woher sie kamen oder welche Sucht sie hatten. Er empfing jeden mit offenen Armen. In mir wuchs der Wunsch: Ich möchte Suchtberaterin werden.

Doch meine eigene Sucht und Abhängigkeit setzten diesem Vorhaben schnell Grenzen. Ich machte eine Ausbildung zur Sozialassistentin, lebte weiterhin in der WG. Mit 18 bekam ich meinen ersten Sohn: Julien – so, wie ich es Olli versprochen hatte. Ich fühlte mich tief verbunden, überglücklich. Aber geprägt von einer Kindheit ohne Bindung und bedingungslose Liebe entschied ich mich schweren Herzens, Julien ins Heim zu geben. Seine Diagnose – Hemiparese nach einem Schlaganfall mit sechs Monaten – überforderte mich vollkommen.

Getrieben von Schuldgefühlen kehrte ich wieder zur Sucht zurück, Tag für Tag drehte ich krumme Dinger, ging wieder anschaffen. Dann traf ich einen Freier, der keinen Sex wollte – nur reden. Zunächst irritiert, akzeptierte ich sein Angebot. Bald war er täglich da, wir gingen eine Beziehung ein. Er schaffte es, mich von den Drogen zu holen. Zwei Jahre war ich clean, und ich holte meinen Sohn Julien wieder nach Hause. Zum ersten Mal war ich glücklich ohne Drogen.

Ich wurde wieder schwanger, Julien bekam einen Bruder: Paul. Wir waren überglücklich. Doch das Glück währte nicht lange. Mein Partner begann, mich zu schlagen. Damals fragte ich nicht nach dem Warum – ich dachte, ich hätte es nicht anders verdient.

Dann kam der 9. Mai 2005 – der Tag, an dem ich durch die Hölle ging. Mein Sohn Paul starb mit einem Jahr am plötzlichen Kindstod. Für mich war klar: Ich war schuld. Alles war falsch, ich war es nicht wert zu leben. Ich rief die Polizei: „Mein Sohn ist tot, ich bringe mich um!“ Ich weiß noch, wie die Beamten kamen, mir meinen toten Sohn aus den Armen rissen. Ich schrie nur: „Er schläft doch nur! Gebt ihn mir wieder!“ Das Piepen des Reanimationsgeräts höre ich noch heute. Zugedröhnt mit Beruhigungsmitteln landete ich in der Psychiatrie, Julien ging in eine Pflegefamilie.

Als ich in der Klinik wieder zu mir kam, war ich innerlich tot. Keine Gefühle mehr – kein Schmerz, keine Wut. Nur Schuldgefühle, nur der Wunsch zu sterben. Am 19. Mai 2005 wurde Paul beerdigt. Immer wieder sah ich, wie sie ihn mir aus den Armen rissen. Die Schreie meines Sohnes Julien trieben mich zurück in die Sucht. Kokain, Heroin, Crystal Meth, Cannabis – alles nahm ich.

Am 20. Mai 2005, meinem Geburtstag, kam dann die Diagnose: Hirntumor. Kopfschmerzen, Schwindel, Sehstörungen – all das hatte mich jahrelang begleitet. Ich dachte: „Du wirst sterben. Du hast es nicht anders verdient.“ Chemotherapie, Schmerzmedikamente – Tilidin, Oxycodon, Fentanyl – alles Opiate, wie Heroin, um zu vergessen.

Im Rahmen einer Reha im Vogtland lernte ich jemanden kennen, der mich an meine erste Liebe Olli erinnerte. Schnell entwickelte sich eine Beziehung, ich wurde clean und zwei Jahre später schwanger. Trotz Hirntumor und Opiaten im Körper bekam ich unsere Tochter Sophia. Eine schwere Zeit: Sie wurde krank, eine seltene Leukämie, Knochenmarkspenden und Chemotherapien standen bevor. Alles brach in mir zusammen. Ich fühlte mich schuldig, wertlos. Mein Partner trennte sich. Ich stand allein da – krebskrank, opiatabhängig, mit einer schwer kranken Tochter.

Dank der Klinik bekamen wir Hilfe. Wir entschieden uns gemeinsam, ins Hospiz zu gehen – eine Entscheidung, die ich rückblickend nicht bereue. Nach einem Jahr war ich stabil genug, die Klinik zu verlassen.

Doch die Vergangenheit holte mich ein: Auf der Suche nach meinem Ex-Partner, dem Vater von Sophia, überkam mich panische Angst. Als ich die Wohnung betrat, hing er im Türrahmen. Alles war wieder da – die Erinnerungen an meinen Vater, an meine erste große Liebe, jetzt auch der Vater meiner Tochter. Er hinterließ einen Abschiedsbrief: „Ich liebe dich, aber ich kann das nicht. Du bist ohne mich besser dran.“

Ich schrie nur: „Warum? Normal müsste ich da hängen, und es müssten meine Worte sein: ‚Du bist ohne mich besser dran.‘“Getrieben von Schmerz und Verzweiflung ging ich zum Dealer. Es dauerte nicht lange, bis ich einen Anruf vom Hospiz bekam: „Es ist soweit. Es ist Zeit, sich zu verabschieden!“ Ich schrie, ich konnte es nicht glauben – erst der Vater, jetzt meine Tochter! Bevor ich in die Klinik fuhr, ballerte ich mir Crystal Meth, um selbstbewusst zu wirken. Rückblickend war der Schmerz, das Leid, der Abschied so heftig, als wäre ich clean gewesen. Es dauerte vier Stunden, bis Sophia einschlief. Ihre letzten Worte waren: „Ich hab dich lieb, Mama. Keine Angst, ich bin bei Gott. Wir sehen uns bei den Engeln wieder.“ Dann schlief sie ein…

Mein Weg zurück zum Dealer führte ins Chaos. Ohne Geld, getrieben von Entzug, Hass, Wut, Enttäuschung und Schuld, raubte ich jemanden aus und verletzte ihn schwer. Dies führte für viele Jahre ins Gefängnis.

Völlig nackt meinen Gefühlen ausgeliefert, alles verloren – krebskrank und stark abhängig – saß ich in meiner Zelle und fragte mich: Warum bin ich hier? Ich wollte doch nur geliebt werden, Anerkennung, dazugehören. Drei Tage vor meiner Entlassung begann ich zu beten: „Gott, wenn es dich irgendwo gibt, mach, dass es aufhört.“ Ein unglaubliches Gefühl von Wärme durchströmte mich. Ich erinnerte mich an Dieter Kappler, und nach meiner Entlassung ging ich zum Blauen Kreuz. Das Gericht hatte mir aufgetragen, Therapie zu machen, sonst drohten zwei Jahre Haft.

Ich war fest entschlossen, doch der Entschluss geriet schnell in Vergessenheit. Im Gefängnis hatte ich eine Frau kennengelernt, die mich nach draußen einlud, zu ihrem Freund Mike zu kommen. Ohne Wohnung und Perspektive sagte ich: „Warum nicht?“ Es war der 19.09.2022.

Mike strahlte eine Ruhe und Gelassenheit aus, die ich noch nie erlebt hatte. Wir verbrachten drei Tage zusammen, redeten 24 Stunden, konsumierten zwar Crystal Meth, aber das Gefühl war anders als sonst. Mike erzählte von seinem Leben – Soldat in Afghanistan, acht Jahre Beziehung, geprägt von Gewalt. Ich dachte nur: Willkommen in meinem Leben!

Für mich stand nicht mehr der Konsum im Vordergrund. Ich hatte jemanden gefunden, der mich akzeptierte – mit all meinen Macken, Ecken und Kanten. Doch das Aufhören war schwer: jeder trug sein eigenes Leid, seine Erinnerungen. Aber wir wollten zusammen sein. Unser Datum: 22.09.22.

Meine Verhandlung stand noch aus – anderthalb Jahre Haft auf drei Jahre Bewährung. Ich musste mich meinen Straftaten, meiner Vergangenheit, meiner Abhängigkeit und meiner Krebserkrankung stellen. Mike blieb an meiner Seite, begleitete mich zu Ärzten. Am 14.10.22 gingen wir zugedröhnt zum Blauen Kreuz, um die Auflage des Gerichts zu erfüllen.

Die wöchentlichen Treffen waren eine Herausforderung, doch wir trafen Menschen, die die Sucht bereits überwunden hatten. Wir wollten das auch schaffen. Weihnachten 2022 war ein Wendepunkt: Am 24.12. feierten wir bei Mikes kranker Mutter. Heimlich konsumierten wir, doch als wir sie aufwecken wollten, reagierte sie nicht. Panik – ich fühlte wieder Schuld. Eine Stunde später hätte es zu spät sein können. Der Schock saß tief. Von da an war klar: So geht es nicht weiter. Wir entsorgten alle Drogen – und seit fast drei Jahren konsumieren wir nichts mehr.

Die ersten Monate waren schwer. Immer noch stand die Vergangenheit vor mir, die Verletzungen, die Schuldgefühle. Doch Mike war immer da. Rückblickend kann ich sagen: Ohne das Blaue Kreuz, ohne Mike und ohne Gott wäre ich nicht mehr am Leben.

Am 8.02.23 begann ich ein Fernstudium zur Heilpraktikerin für Psychologie. Ich konnte an mir arbeiten, wachsen, heilen. Am 07.09.23 entschied ich mich für Jesus – rückblickend die beste Entscheidung meines Lebens. Alles veränderte sich: Lebensmut, Hoffnung und die Gewissheit, dass mein Leben wertvoll ist.

Heute darf ich als Suchtberaterin beim Blauen Kreuz arbeiten, Menschen begleiten, motivieren, Hände reichen und beten. Ich habe die Möglichkeit, ein Vorbild zu sein – zu zeigen, dass ein Ausstieg aus Sucht möglich ist.

Ein Psalm begleitet mich täglich:
„Du zeigst mir den Weg, der zum Leben führt. Du beschenkst mich mit Freude, denn du bist bei mir. Aus deiner Hand empfange ich unendliches Glück.“ (Psalm 16:11 HFA)

Mike und ich sind beide Christen geworden, führen ein zufriedenes, abstinentes Leben. Wir sind Gott unendlich dankbar, „frei“ zu sein – frei von Substanzen, frei von Gefangenschaft – und Teil einer großen Familie, dem Blauen Kreuz Leipzig, die Begegnung, Liebe und Offenheit ohne Vorurteile lebt.

Heute lebe ich ein Leben, das ich mir früher nicht hätte vorstellen können. Seit drei Monaten bin ich fest beim Blauen Kreuz Leipzig als Suchtberaterin angestellt. Täglich begleite ich Menschen, die – genau wie ich – einst in der Sucht gefangen waren, und helfe ihnen, den Weg in eine abstinente Zukunft zu finden. Ich kann Klienten auf ihrem Weg begleiten, ihre Geschichten hören, sie motivieren und zeigen, dass Veränderung möglich ist.

Darüber hinaus engagiere ich mich in vielen Schulprojekten. Mit meiner eigenen Lebensgeschichte kann ich Schülern die Realität von Abhängigkeit, Gewalt und Verlust näherbringen, sie warnen, aber auch Hoffnung schenken. Ich zeige ihnen: Selbst aus tiefstem Schmerz und Verzweiflung kann ein neues Leben entstehen, ein Leben voller Sinn, Freude und Erfüllung.

Doch trotz all dieser wertvollen Arbeit steht meine Stelle auf wackligen Füßen. Nach drei Monaten ist meine Förderung bereits wieder ausgelaufen, und das Blaue Kreuz, das ausschließlich von Spenden lebt, kann die Finanzierung meiner Stelle nicht dauerhaft sichern.

Hier ist eure Chance, etwas zu verändern: Jede Spende ermöglicht es mir, weiterhin Menschen auf ihrem Weg in ein abstinentes Leben zu begleiten, ihnen Hoffnung zu schenken und Präventionsarbeit zu leisten, die Leben retten kann. Eure Unterstützung bedeutet nicht nur, dass ich meinen Job behalten kann – sie bedeutet, dass wir gemeinsam eine Zukunft aufbauen, in der Menschen aus der Sucht herausfinden, Heilung erfahren und ein Leben in Freiheit führen können.

Wenn ihr meine Arbeit oder das Blaue Kreuz Leipzig unterstützen möchtet, helft mit, damit wir weiterhin stark sein können für die Menschen, die uns brauchen. Jeder Beitrag, egal wie klein, ist ein Schritt in Richtung Hoffnung, Veränderung und ein Leben in Freiheit.

Gemeinsam können wir zeigen: Veränderung ist möglich. Heilung ist möglich. Leben ist möglich.