Warum Abstinenz allein oft nicht ausreicht
– Über innere Heilung, Zugehörigkeit und den Weg in die Freiheit
In der Begleitung suchtkranker Menschen gilt Abstinenz häufig als zentrales Ziel – und das zurecht. Ein Leben frei von Suchtmitteln ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg in die Freiheit. Doch wer in der Suchtarbeit tätig ist oder selbst betroffen war, weiß: Abstinenz ist oft nur der Anfang. Denn das Ende der Sucht bedeutet noch nicht automatisch die Heilung der inneren Wunden, die ihr vorausgegangen sind.
Sucht als Ausdruck innerer Not
Suchtmittel oder süchtige Verhaltensweisen sind für viele Menschen nicht bloß eine „falsche Entscheidung“, sondern eine Reaktion auf tieferliegenden Schmerz. Emotionale Leere, Verletzungen aus der Kindheit, ungeliebte Erfahrungen oder das Gefühl, nicht dazuzugehören – all das kann im Menschen einen inneren Hunger hinterlassen. Sucht kann dann zum Versuch werden, diesen Hunger zu stillen. Nicht die Sucht ist das eigentliche Problem, sondern oft das, was darunter verborgen liegt.
Warum ein nüchternes Leben noch keine Freiheit bedeutet
Abstinenz kann die Symptome lindern, aber nicht automatisch die Ursachen heilen. Viele Menschen erleben nach dem Verzicht auf Alkohol, Drogen oder andere Abhängigkeiten plötzlich eine innere Leere oder einen aufbrechenden Schmerz. Wenn diese Gefühle nicht ernst genommen und begleitet werden, besteht die Gefahr, dass sich die Sucht lediglich verlagert – auf andere Bereiche wie Arbeit, Essen, Beziehungen oder Kontrolle.
Heilung beginnt mit Annahme und Beziehung
Ein zentraler Schlüssel zur Veränderung liegt in der Beziehung – zu sich selbst, zu anderen Menschen und zu Gott. Viele Betroffene haben Verletzungen durch fehlende Bindung oder Ablehnung erlebt. Darum ist ein liebevolles, annehmendes Miteinander heilsam. In einer Gemeinschaft, in der man mit seiner Geschichte gesehen und getragen wird, kann sich langsam ein neues Selbstbild entwickeln: Ich bin nicht allein. Ich bin nicht falsch. Ich bin gewollt.
Als christlicher Verein glauben wir, dass wahre Heilung nicht nur durch äußere Veränderung, sondern durch eine innere Erneuerung geschieht. Durch die Erfahrung von Annahme, Vergebung und neuer Hoffnung kann das Herz heil werden – und mit ihm auch das Leben.
Der Weg zur Freiheit ist ein Weg der Tiefe
Suchtfreiheit bedeutet mehr als „nicht trinken“. Es bedeutet, dem eigenen Schmerz Raum zu geben, ihn nicht mehr verdrängen zu müssen. Es bedeutet, sich ehrlich mit sich selbst auseinanderzusetzen – und dabei nicht allein zu bleiben. Es bedeutet, neu zu lernen, was es heißt, geliebt zu sein. In der Begegnung mit anderen. Und – für uns als Christen – in der liebevollen Gegenwart Gottes.
Fazit:
Abstinenz ist ein wertvoller Schritt – aber kein Endpunkt. Wirkliche Freiheit entsteht, wenn Menschen begleitet werden, ihren Schmerz anzuschauen, neue Hoffnung zu fassen und Heilung zu erleben. Als Blaues Kreuz Leipzig e.V. wollen wir nicht nur zur Abstinenz ermutigen, sondern Räume schaffen, in denen ganzheitliche Veränderung möglich wird.
Autor: Sven Kreklau